Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

30.08.2012   10:34   +Feedback

Merkels Paradestrecke

Wissen Sie, was eine Paradestrecke ist? Nein, nicht die Zürcher Bahnhofstraße, nicht die Champ Elysee in Paris und auch nicht der Canale Grande in Venedig. Die Paradestrecke war ein Begriff in der DDR, ebenso wie Salatgarnitur und Sättigungsbeilage, nur aufwendiger, größer, pompöser. Es war eine Straße oder auch ein Straßenzug, der für Staatsbesuche hergerichtet wurde. Die Fassaden der heruntergekommenen Häuser wurden angestrichen, die Laternen geputzt, die Bürgersteige repariert. Die Paradestrecke führte vom Gästehaus der DDR-Regierung zum Amtssitz des Staatsratsvor-sitzenden. Wer sie in einem Auto passierte, sollte den Eindruck gewinnen, so sähe es in ganz Berlin, Hauptstadt der DDR, aus.

Es gibt keine Paradestrecke mehr in Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, aber das bedeutet nicht, dass die Regierung Ihrer Majestät, Angela der Ersten, darauf verzichten würde, Fassaden anzustreichen, um darüber hinwegzutäuschen, wie baufällig die Häuser sind.

Vor kurzem hat die Kanzlerin eine Kampagne unter dem Namen „Ich will Europa“ eröffnet. Dahinter stehen die „Engagierten Europäer“, elf deutsche Stiftungen, „die sich für ein starkes Europa“ einsetzen.

Weil Stiftungen aber weder ein Gesicht noch eine Stimme haben, hat man eine Reihe von Bürgerinnen und Bürgern gebeten zu sagen, warum sie Europa wollen. Und so sind kurze lustige „Testimonials“ entstanden, wie man sie aus der Fielmann-Werbung kennt. Eine junge Frau, die Rita S. heißt und eine dunkle Brille trägt, sagt: „Ich will Europa, weil wir damit auch in Zukunft politisch und wirtschaftlich gegen Asien bestehen können!“ Ein junger Mann namens Kolja geht noch weiter: „Ich will Europa, weil wir nur gemeinsam unsere demokratischen Werte von Freiheit und Gerechtigkeit in die Welt transportieren und ökonomisch gegen Asien und die USA bestehen können.“ Bertold, 74, will Europa, damit „ich meine Enkelin in Spanien besuchen kann – wann immer ich will“. Und Benno, der vor der Blauen Lagune in Island interviewt wurde, bekennt: „Europa ist für mich ein Lebensgefühl.“

Da mussten wirklich die besten Köpfe der führenden deutschen Stiftungen zusammenkommen, um das „Lebensgefühl“ der vereinten Europäer zu artikulieren.

So, jetzt wissen sie, was eine Paradestrecke ist.

Erschienen in der Weltwoche, 30.8.12

Siehe auch:
http://www.youtube.com/watch?v=jycQ-Ay6eSg

 

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