Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

08.02.2012   19:37   +Feedback

Adi, Liad, Yemima - kritische Juden am Rande des Zusammenbruchs

Seit eine bekannte Kölner Frauenrechtlerin vor inzwischen über 30 Jahren einer mit nahe stehenden Person Hausverbot erteilte, weil diese “als die Geliebte eines militanten Juden” in Ungnade gefallen war, weiss ich, dass man und frau bei Juden sauber differenzieren muss. Es gibt gläubige Juden, säkulare Juden, linke Juden, rechte Juden, gute Juden, schlechte Juden, Musterjuden wie Seligmann und Ich-erkläre-Euch-die-Welt-Juden wie Brumlik.

Seit kurzem gibt es eine neue Kategorie: “kritische Juden”. Als ich das Wort zum ersten Mal hörte, nahm ich an, es handle sich um Juden, welche die Speisegebote kritisch hinterfragen, denn so vernünftig es war, bei der langen Wanderung durch die Wüste auf Schweinefeisch und Schalentiere zu verzichten, sind solche Verbote im Zeitalter von Kühlschränken wenig sinnvoll. Was mich angeht, kann ich auf Schweinefleisch gerne verzichten, aber ich würde eher ins Hintere Kandertal ziehen, bevor ich Shrimps, Scallops und Lobster aufgebe, G’tt ist mein Zeuge!

Aber den “kritischen Juden” geht es nicht ums Essen. Es geht ihnen um Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten. Dafür kämpfen sie Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter, indem sie Resolutionen verfassen. Eine solche Resolution flatterte eben auf meinen Tisch. Hier der Wortlaut mitsamt den Unterzeichnern:

Heinrich Böll als Gastgeber für eine Kriegsverbrecherin?

Die Heinrich Böll Stiftung organisiert eine Tagung zum Thema „Fremde Freunde? Die israelische und deutsche Sicht auf Staat, Nation, Gewalt. Ein Vergleich.“

Es soll die Diskrepanz zwischen der kritischen deutschen Publikumsmeinung zu Israels Politik und der Unterstützung der deutschen politischen Klasse für diese Politik untersucht werden. Trotz des problematischen Einführungstexts, der auf befremdliche Weise von israelischer und deutscher „Mentalität“ spricht und Bevölkerungsgruppen wie Palästinenser, Misrachim und Frauen weitgehend übergeht, könnte man den Organisatoren noch glauben, sie hätten Interesse an einer offenen Fragestellung und Diskussion. Die Tatsache, das sich unter den Eingeladenen Tzipi Livni befindet, die ihre Verantwortung für Kriegsverbrechen nicht einmal leugnet, lässt aber andere Intentionen der Mitarbeiter der Heinrich Böll Stiftung erkennen. Die Einladung von Livni bedeutet die Rehabilitation einer Kriegsverbrecherin.

Die Organisatoren gehen von der Annahme einer in der Vergangenheit angeblich ähnlichen politischen Kultur beider Länder und einer zwischenzeitlichen Entfremdung bezüglich dieser Kultur als Erklärung für die eingangs beschriebene Diskrepanz aus. Sie sehen eine Änderung in der israelischen Politik, die ihrer Ansicht nach „als Abkehr von der demokratischen politischen Kultur Israels gewertet werden“ sollte. Es ist unklar, worauf diese Bewertung basiert: In Israel gelten seit seiner Gründung nach wie vor Regelungen des Ausnahmezustands, die die Pressefreiheit einschränken. Es gab niemals eine Trennung zwischen Staat und Religion, weshalb eine interkonfessionelle Eheschließung unmöglich ist. Die Siedlungspolitik des Staates änderte sich in den letzten gut vierzig Jahren nicht. Es gibt eine gesetzlich verankerte Diskriminierung nach Ethnie. Um nur ein paar undemokratische Fakten zu nennen, die in der Bundesrepublik nach dem Krieg nicht mehr zur politischen Kultur gehörten.

Es gibt aber in der Tat auch Ähnlichkeiten zwischen der politischen Kultur beider Länder. Eine der traurigen Gemeinsamkeiten ist die Art, in der man in beiden mit Kriegsverbrechern umgeht.

Das spiegelt sich in der Einladung der ehemaligen Außenministerin Tzipi Livni wider, die laut verschiedener renommierter Menschenrechtsorganisationen als Kriegsverbrecherin anzusehen ist. Tzipi Livni, wie auch andere israelische Armeeoffiziere und Staatsfunktionäre, sagte einen Besuch in London ab, da sie dieVerfolgung durch das britische Rechtssystem umgehen musste. Als Reaktion auf den Haftbefehl, der in Großbritannien gegen sie ausgestellt wurde, sagte sie, sie sei stolz auf ihre Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Angriff auf den Gazastreifen im Winter 2008-9. Die Heinrich Böll Stiftung bietet aber Tzipi Livni, die unter anderem für den Einsatz völkerrechtswidriger weißer Phosphorbomben mitverantwortlich ist, eine Bühne, als ob sie nicht als eine persona non grata gesehen werden muss, mindestens so lange sie stolz darauf ist und eine Klärung ihrer Verbrechen verhindert.

Wir, Israelis, die in Deutschland und Israel leben und als Menschenrechtsaktivisten zunehmenden Schikanen der israelischen Regierung ausgesetzt sind, rufen die Heinrich Böll Stiftung auf, Tzipi Livni auszuladen und damit ein Zeichen für andere Normen in Deutschland und in Israel zu setzen.

Ya’ar Hever, Berlin
Galit Altshuler, Berlin
Itamar Shappira, Jerusalem
Maya Wind, Jerusalem
Eran Efrati, Jerusalem
Iris Hefets, Berlin
Yossi Bartal, Berlin
Shiri Eisner, Tel-Aviv
Lilach Ben-David, Tel-Aviv
Dr. Tzvia Shappira, Ramat Hasharon
Chen Misgav, Ph.D Candidate, Tel-Aviv
Dr. Eitan Grossman, Jerusalem
Alma Biblash, Tel Aviv
Shir Hever, Göttingen
Adi Liraz, Berlin
Mai Zeidani, Berlin
Gal Schkolnik, Berlin
Yemima Fink, Berlin
Tal Shapira, Tel-Aviv
Noa Abend, West-Jerusalem
Noam Lekach, Boston/Tel-Aviv
Gideon Spiro, Tel Aviv, son of German Jewish refugees from Nazi Germany
Tal King, Tel-Aviv
Yehoshua Rosin, Rehovot
Rachel Giora, Tel aviv
Elisha Baskin, Jerusalem
Dorothy Naor, Herzliah
Shai Carmeli Pollak, Tel-Aviv
Oshra Bar, Ramat Gan
Ofra Ben Artzi, Jerusalem
Neta Golan, Ramallah
Liad Kantorowicz, Berlin
Assaf Kintzer, Yaffa
Naomi Lyth. Tal Aviv
Edo Medicks, Israel
David Nir, Israel
Ruth Edmonds, Jerusalem
Yonatan Shapira, Israel
Anat Matar, Ramat Hasharon
Ofer Neiman, Jerusalem
Einat Podjarny, Berlin
Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin, Jüdische Stimme Berlin
Yaar Peretz, Israel
Renen Raz, Tel-Aviv

Als militanter Jude hätte ich dazu zwei Fragen.

Erstens: Über die Frage, wer ein Kriegsverbrecher bzw. Kriegsverbrecherin ist, entscheiden entweder ordentliche Gerichte oder internationale Gerichtshöfe, z.B. in Nürnberg oder Den Haag. Wurde diese Aufgabe inzwischen von “kritischen Juden” und “Menschenrechtsaktivisten” übernommen? Können sie auch Strafen verhängen und diese vollstrecken? Zum Beispiel Besuch eines Vortrages von Felicia Langer oder, in besonders schweren Fällen, ein Wochenende mit Abi beim Auspacken seiner Remittenden?

Zweitens: Welchen Schikanen der israelischen Regierung sind die in Deutschland lebenden Israelis ausgesetzt? Werden ihre Care-Pakete unterwegs abgefangen? Müssen sie einmal die Woche aufs Konsulat, um sich Video-Aufzeichnungen der bekanntesten israelischen Reaiity-Show “Sarah and Bibi in Love” anzusehen?
Ich würde wirklich gerne wissen, worunter Yemima Fink, Adi Liraz, Liad Kantorowicz oder Ya’ar Hever  leiden. Echt. Ich würde diesen kritischen Juden und Jüdinnen so gerne helfen. Wenn ich nur wüßte, wie und womit.

Und jetzt fahre ich erstmal nach Fredericksburg zum Shoppen bei Walmart. So komme ich auf andere Gedanken. In Virginia scheint die Sonne, während sich die kritischen Juden in Berlin den Arsch abfrieren. Jesch Tzedek!

 

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