Es ist sechs Uhr früh in Virginia, über dem Potomac liegt der Morgentau und die Sonne überlegt noch, ob sie schon aufgehen oder noch eine Weile hinter dem Horizont ruhen soll. Ich dagegen beschließe aufzustehen und eine Runde zu radeln, nachdem ich mir gestern bei Walmart einen Beachcruiser gekauft habe. Vorher aber schaue ich kurz bei Welt Online nach, was es so Neues gibt. Hat Grass schon das Bundesverdienstkreuz bekommen? Wurde er zu Lebzeiten seliggesprochen? Hat Israel das Einreiseverbot für den Dichter zurück genommen und sich in aller Form entschuldigt? Nichts davon ist passiert, ich muss es geträumt haben.

Die Topnachricht bei Welt Online lautet: „Piraten überholen die Grünen“, sie haben sich in der Gunst der Wähler auf den dritten Platz (nach CDU/CSU und SPD) vorgearbeitet und liegen derzeit bei sensationellen 13 Prozent! Auch wenn es sich nur um eine Umfrage und kein Wahlergebnis handelt, so ist es doch eine erstaunliche Entwicklung.

Mein erster Gedanke: Die spinnen, die Deutschen! Sollen sie doch gleich eine Ladung Fliesen aus dem nächsten Baumarkt in den Bundestag schicken. Oder einen Bus voller Rentner, denen Schnabeltassen als Geschenk versprochen wurden, wenn sie ein paar Fragen zu ihrer Verdauung beantworten. Also ab aufs Rad und dann nichts wie weg!

Aber der zweite Gedanke tönt schon anders. Irgendwas muss doch an den Piraten dran sein, dass sie in so kurzer Zeit und nach nur zwei Wahlerfolgen (in Berlin und im Saarland) so vielen Wählern den Kopf verdrehen konnten? Was ist es nur?

Es ist das Apollo-Prinzip. Nein, ich meine nicht das amerikanische Raumschiff, das Astronauten zum Mond brachte, ich meine das gleichnamige Theater in Haarlem/New York, in dem jeden Mittwoch eine „Amateur Night“ stattfindet. Das Publikum entscheidet, wer gewinnt und einen Preis bekommt. Und meistens sind es nicht die besten Sänger, Tänzer und Musiker, sondern diejenigen, die das Publikum am meisten rühren, wie z.B. ein fünfjähriger Junge, der wie Michael Jackson zappelt.

Das ist es! Die Piraten machen nicht Politik, sie machen Politiker nach. Sie tun so, als wären sie welche. Und das geht den Leuten ans Herz.

Ich binde mir eine Bandana um den Kopf und radle los. Der aufgehenden Sonne entgegen.

Erschienen in der Weltwoche vom 12.4.12