Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena
24.09.2009 22:25 +Feedback
Am Ende hängt doch alles mit allem zusammen. Irgendwie. Wenn die Berliner Polizei mit ein paar Autonomen nicht fertig wird, die jede Nacht Autos abfackeln, kann man dann von der Bundesmarine erwarten, dass sie die Piraten, die vor der somalischen Küste agieren, neutralisiert? Und wenn jedes Jahr rund 12.000 Raubdelikte in Berlin „wegverwaltet“, also nur noch statistisch erfasst, aber nicht verfolgt werden, sollte man sich nicht wundern, dass in Berlin inzwischen Polizisten von Gangs gejagt werden – und nicht umgekehrt.
Der „asymmetrische Krieg“ findet inzwischen auch in den europäischen Metropolen statt. Sogar in der Schweiz, einer Festung der Zivilisation.
Letzten Freitag kam ich am späten Nachmittag in Zürich-Kloten an und machte ich mich auf den Weg zum SBB-Bahnhof. Der nächste Zug nach Aarau ging in einer halben Stunde, Zeit genug, um in aller Ruhe ein Billet und eine große Packung „Kägi-fretli“ zu kaufen. Sollte es im Himmel „Luxemburgerli“ und in der Hölle „Kägi-fretli“ geben, ich würde mich ohne zu zögern für die Hölle entscheiden.
Der Zug kam pünktlich, beim Einsteigen griff ein Mann, der neben mir stand, nach meinem Koffer und wuchtete ihn in den Wagon. Das fand ich sehr nett, merkwürdig war nur, dass er sofort wieder ausstieg.
Ich suchte mir einen Platz, der Zug fuhr an und in diesem Moment bemerkte ich, dass meine „Tuntentasche“, die ich von der rechten Schulter zur linken Hüfte trug, auf war. Ich war mir sicher, dass ich nach dem Kauf des Billets den Reißverschluss zugemacht hatte. Ich griff in die Tasche. Die Geldbörse war weg. Mit ihr einige hundert Euro und Schweizer Franken, der Personalausweis, der Führerschein, der Presseausweis, die Bahncard der Deutschen Bahn und ein halbes Dutzend EC- und Kreditkarten.
In Aarau angekommen, stellte ich das Gepäck im Hotel ab und machte mich auf den Weg zur Kantonspolizei. Es war kurz vor 20 Uhr und bei der Kantonspolizei längst Feierabend. Montag bis Freitag war das Büro von 9 bis 11.45 Uhr und von 15 bis 17.45 Uhr besetzt, an Samstagen von 10 bis 11.45 Uhr. Sonntags gar nicht.
Am nächsten Tag wurde ich sehr früh durch einen Anruf auf meinem Handy geweckt. Inspektor Bollinger von der Polizeistation Kloten wünschte mir einen guten Morgen. Ein Reisender habe meine Geldbörse gefunden und sie bei der Polizei abgegeben. Ob ich vorbeikommen und sie abholen könnte?
Sehr gerne, sagte ich voller Dankbarkeit, aber erst müsste ich an einer Konferenz zum Thema „Neutralität“ teilnehmen, die von der EVP veranstaltet wurde. Es war etwas seltsam, in der Schweiz über „Neutralität“ zu diskutieren, nur ein Round Table im Vatikan über die Vor- und Nachteile des Zölibats wäre noch seltsamer gewesen.
Alle Teilnehmer der Konferenz waren sich einig, dass die Schweiz an dem Konzept der Neutralität festhalten sollte, trotz Schengen, der engen Bindungen zur EU und dem Beitritt zu den Vereinten Nationen. Das sei nicht nur im Interesse der Schweiz, sondern vor allem der „Schwächsten der Schwachen in der ganzen Welt“, zu deren Gunsten die Schweiz nur dann intervenieren könnte, wenn sie neutral bliebe. Ich erlaubte mir die Bemerkung, dass die Schweiz nicht einmal in der Lage wäre, zugunsten zweier Schweizer Bürger zu intervenieren, die in Libyen festgehalten würden und gab zu bedenken, ob vor diesem Hintergrund der Anspruch, den „Schwächsten der Schwachen in der ganzen Welt“ helfen zu wollen, nicht etwas übertrieben wäre.
Am nächsten Tag sprach ich bei der Polizei in Kloten vor. Meine Geldbörse wartete schon auf mich, mit den Ausweisen und Kreditkarten, aber ohne das Bargeld. „Da haben Sie ja noch Glück gehabt“, sagte der Dienst habende Kommissar. Ich sagte, ich wollte Anzeige erstatten. „Das bringt doch nichts“, sagte der Kommissar, ließ sich dann aber doch überreden, das „Foto-Album“ zu bringen. Der Mann, der mir so nett beim Einsteigen geholfen hatte, war der Flughafen-Polizei schon aufgefallen: Bogdan W., 49 Jahre alt, blond, 175 groß. „Das ist er“, sagte ich. „Der ist bestimmt schon weg“, sagte der Kommissar, man habe ihn nur „vorsorglich“ fotografiert und gehen lassen. Es sei eben schwierig, einen Dieb in flagranti zu erwischen.
Das ist, dachte ich, praktizierte Neutralität. Hier die Diebe, dort die Beklauten. Und dazwischen die Polizei.
C: Weltwoche, 24.9.09
Siehe auch:
http://www.evppev.ch/index.php?id=1721&L=0
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