Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena
24.08.2007 20:37 +Feedback
In meiner Jugend war ich zwar mal in Tunesien und auch kurz in Algier, und vor ein paar Jahren reisten meine Frau und ich mehrere Wochen durch Südafrika, aber in einem der vielen Gebiete zwischen Nord und Süd, im “schwärzesten Afrika”, wie es die Kolonialisten im Brustton ihrer Überheblichkeit nannten, war ich noch nie gewesen. So kannte ich bis vor kurzem Dakar nur aus einigen Werken des im Juni verstorbenen Romanciers und Filmregisseurs Ousmane Sembene und von der jährlichen Todeskitzelrallye, bei der LKWs, PKWs und Kräder von Europa losbrausen und zwei Wochen quer durch die Sahara bis an den westlichsten Punkt Afrikas rasen.Und natürlich war mir Senegals erster Präsident, der Negritude-Dichter Leopold Sedar Senghor, ein Begriff, seit er während der Frankfurter Buchmesse 1968 in der Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hatte. Damals hatten sich die neunmalklugen Sprücheklopfer vom SDS bei mir unbeliebt gemacht, weil sie Senghor als dichtende Marionette des Imperialismus anpißten. Er paßte nicht ins Konzept der Diktatur des Proletariats, denn er war einer der wenigen afrikanischen Politiker, die darauf bestanden, daß alle—auch demonstrationssüchtige Brüllhansel—demokratische Spielregeln einhielten, und im Gegensatz zu den meisten seiner postkolonialen Kollegen fiel er weder napoleonischen noch stalinistischen Versuchungen zum Opfer.
Gemeinsam mit meinem in Irland lebenden Kollegen, dem Übersetzer Hans-Christian Oeser, vertrat ich im Juli 2007 das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland beim 73. internationalen PEN-Kongreß in Dakar; es war das erste plenare PENner-Meeting in “Schwarzafrika”. Dabei ging es, neben dem üblichen zeitraubenden bürokratischen Krimskrams, um die zentralen Anliegen der Autorenlobby, wie Petitionen zugunsten zwischen Kuba und Persien inhaftierter Kollegen, Proteste gegen offiziell sanktioniertes oder zumindest geduldetes Mordklima in Moskau und Istanbul, Resolutionen zur Islamistenhetze gegen Salman Rushdie und öffentliche Beschwerden über die Dreistigkeit des Neo-Megalomanen Hugo Chavez, der sich kürzlich mit dem Lizenzentzug der letzten unabhängigen venezuelanischen Fernsehstation einen weiteren demokratischen Dorn aus seiner autokratischen Seite entfernt hatte. Wenn auch die Sitzungsdetails einer vertraulichen Schonzeit unterlagen, vor allem bei Kontroversen, bot sich das Drum und Dran eines solchen Tagung selbstverständlich berichterstatterischer Ausbeute an—vor allem, da ich mir den Spaß aus eigener Tasche leistete. (Wie ich es bereits im vorigen Jahr hielt, als ich in dieser Kolumne über den Berliner Kongreß berichtete. Die darin erwähnte Trauergestalt, die meine Frau zur Jamaikanerin zu deklarieren versuchte, arbeitet allerdings seit Ende 2006 nicht mehr für PEN. Nebenbei bemerkt: Weder meine Frau noch jamaikanische Delegierte kamen nach Dakar.)
Während USAir seinen Passagieren auf dem nächtlichen Flug von Philadelphia nach Brüssel ein Pappessen auf die Tabletts patschte und für jedes kleine Fläschchen billigen Fusels fünf Dollar kassierte, ließ sich Brussels Airlines—Nachfolgerin der im Chaos der Nine-Eleven-Malaise bankrott gegangenen Sabena – zwischen Brüssel und Dakar weder bei der Penne Pasta mit Lachs noch kostenlosem Cotes de Gascogne lumpen. Ich verzichtete darauf, meine Augen mit kleinformatigen Filmchen zu traktieren; stattdessen, während ich von Minutenschlaf zu Minutenschlaf nickte, fütterten mich meine Kopfhörer mit den neuesten Youssouf N’dour-Aufnahmen. Als ich wieder munter wurde, blätterte ich mich im Flugmagazin mit dem verlockenden Namen “spirit!” durch muntere Folklore und „business opportunities“ im Kongo; hinter der bunten Fotofassade waren die vier Millionen Toten des kongolesischen Holocaust der letzten Jahre keinen Pieps wert. Dem folgte ein erfrischender Artikel über “Uganda’s Great Outdoors”, wobei sich mir die Erinnerung an Idi Amins Erregung beim Anblick seines Blutsverwandten, eines Krokodils, aufdrängte, diese filmische Dokumentation eines irren Massenmörders, die mir in den drei Jahrzehnten, seit ich sie sah, nie aus dem Kopf ging; die Weltmeisterschaft im Köpferollen, die Amin damals mit Pol Pot ausfocht, verlor er letztendlich.
Ich blickte aus dem Fenster. Zwölftausend Meter unter mir streckte sich gelangweilt die Sahara. Ähnlich muß der Anblick für Antoine de Saint-Exupéry gewesen sein, wenn auch von geringerer Höhe, als er in den Zwanzigern sein Postflugzeug von Casablanca nach Dakar flog. Ich versuchte mir vorzustellen, wie der Kleine Prinz durch die Wüstenhitze stolpert.
Back to the future: Ich verlor mich in den Verlockungen einer ganzseitigen Hochglanzanzeige. “Besitzen Sie ein Stück Himmel in Gambia”—für nur 38,250 Euro, direkt am Atlantikstrand, sehr verführerisch, da können die Kanaren ein Stück weiter nördlich nicht mithalten—ganz davon abgesehen, daß das gambische Paradies mit seinen militärdiktatorischen und pressezensorischen Allüren verelendeten westafrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen kein Refugium bietet.
Aber ich flog ja nicht in den Kongo oder nach Uganda und auch nicht nach Gambia, sondern nach Senegal, wo, seit Senghor 1960 sein Heimatland in die Unabhängigkeit von Frankreich führte, die putschfreie Musterdemokratie Afrikas floriert—sieht man mal ab von weiterhin weitverbreiteter und legaler Polygamie (der einseitigen Art natürlich, ein Mann, mehrere Frauen), einigen handfesten Hauskrächen mit politisch motivierten Karzerstrafen, Streitereien mit Nachbarländern und Bürgerkriegsscharmützeln im Süden des Landes, der Casamance. Solch relative Ruhe hatte auch den internationalen PEN überzeugt, sich auf Drängen nicht nur des sengalesischen PEN, sondern einer Koalition der fünfzehn afrikanischen Zentren auf das Wagnis dieser Konferenz einzulassen. Leider bewahrheitete sich bereits Wochen vor Beginn, daß Bravura und große Klappe nicht genügen, so eine komplexe Sache mit Hunderten von Teilnehmern aus aller Welt tadellos durchzuziehen; während es bei anderen PEN-Kongressen selbstverständlich war (und auch für Dakar zunächst so angekündigt), daß alle offiziellen Delegierten auf Kosten der Gastgeber im Konferenzhotel wohnen, wurde das den Senegalesen im letzten Moment zu teuer, und sie wichen für diejenigen, die nicht bereit waren, mehrere hundert Euro zusätzlich zu blechen, auf billigere Quartiere aus. Ob mit den Managern des Le Meridien President oder der Zentrale der Starwood-Hotelkette in New York, zu der die fast jährlich den Besitzer wechselnden Meridiens zur Zeit gehören, je über Sonderpreise verhandelt wurde, die ein für das gute Funktionieren solcher Konferenzen eigentlich unabdingbares gemeinsames Dach über den Köpfen aller ermöglicht hätten, blieb unerfindlich; jedenfalls schien das Vier-Sterne-Strandhotel mit seiner ansehnlichen Poolanlage und seinem etwas steril wirkenden Interieur im Norden der Cap Vert-Halbinsel, auf der Dakar liegt, in dieser Woche nicht annähernd ausgebucht zu sein.
Gegen fünfzehn Uhr landeten wir auf dem nach dem 2001 verstorbenen früheren Vizepräsidenten des International PEN benannten Leopold Sedar Senghor-Flughafen. Fortuna war mir besser gesonnen als meinen Kollegen vom innerdeutschen PEN, deren Air France-Maschine am Abend mit einiger Verspätung und ohne ihr Gepäck eintrudelte; mein Koffer purzelte rasch aufs Förderband. Der Zollbeamte haute mir ohne Federlesen seinen Stempel in den Paß (als US-Amerikaner brauchte ich, wie auch EG-Bürger, in angenehmem Kontrast zur Einreise in die meisten anderen afrikanischen Staaten kein Visum), und schon rollte ich meine Habseligkeiten in die schwüle Nachmittagshitze; aber an ein solches Klima war ich um diese Jahreszeit bei mir daheim in Virginia gewöhnt. Ich steuerte auf eine schlanke junge Dame in fußknöchelllangem blauem, mit bunten Schnörkeln verziertem Kleid zu, die ein “PEN”-Schild hochreckte und schnell von Euro-Intellektuellentypen umringt war. Nicht ganz ungeübt erwehrte ich mich einiger junger Burschen, die mir das Kofferrollen nicht gönnten; einer behauptete, die junge Dame wäre seine Schwester und hätte ihn darum gebeten, mir zu helfen. Als ich ihn aufforderte, mich zuerst mal seiner Schwester vorzustellen, suchte er sich rasch ein anderes Opfer.
Wenige Minuten vom Flughafen entfernt wurde ich, gemeinsam mit desorientierten Kollegen aus mehreren europäischen Ländern, vom Kleinbus, in den man uns gerade gepfercht hatte, neben einem tomatenroten Gebäudekomplex mit Hotel, Spielkasino, Nachtclub und Restaurant wieder abgesetzt; leicht verdattert folgten wir unserer hübschen Führerin durch ein bewachtes Tor in einen schattigen Innenhof mit maurisch-mediterranem Ambiente; “Airport Hotel”, stand am Gebäude. Noch während wir an der Rezeption die Anmeldeformulare ausfüllten, verschwand unsere liebliche weibliche Begleitung samt Fahrzeug. Und was nun? Erwarteten uns irgendwelche Unterlagen? Erklärungen? Anweisungen? Nein, nichts, keine Spur—wir bekamen unsere Zimmerschlüssel ausgehändigt, und ansonsten hieß der beschlipste, hilflos zugeknöpfte Hotelclerk Hase. Immerhin sprach er ein wenig englisch.
Von meiner Bleibe für die nächsten sieben Nächte war ich allerdings angenehmer überrascht als befürchtet. Daß es mir vor der Reise nicht gelungen war, “Airport Hotel Dakar” zu googlen, mochte daran gelegen haben, daß es ziemlich neu war. Im wie die ganze Anlage in rötlichen Schattierungen gehaltenen Zimmer—Bettüberdecke und Vorhänge bedrohlich blutrot—verlor sich jedoch bald der erste Schock ob der Boudoirfarben; die Klimaanlage funktionierte einwandfrei, und vor der überdachten Terrasse zum Pool milderten üppige Vegetation und blaufunkelndes Schwimmbecken die Wassermelonen-Ästhetik.
Obwohl Senegal mit seiner mehr als neunzigprozentig moslemischen Bevölkerung zum—wie es im Reiseführer heißt—“islamischen Kulturkreis” gehört, fand ich in der Minibar neben Wein auch eine Flasche Flag, das örtlich gebraute, genüßlich starke Bier; damit spülte ich zunächst mal meine Antimalariapille runter. Später, nach einer ausgiebigen Dusche, stolzierte ich frischen Mutes zur Rezeption zurück. Als der Mann hinter seinem Flachbildschirm immer noch den hochmütigen Hasen spielte und mir schließlich vorschlug, ich möchte doch einfach ein Taxi zum Meridien-Hotel nehmen, mir aber keine Dollars in senegalesische Franc wechseln konnte, beschloß ich, ihm Beine zu machen. Also wich ich nicht eher vom Tresen, bis er sich dazu bequemte, bei der Konferenzzentrale im Meridien so beharrlich durchzuklingeln, bis sich dort jemand meldete—und siehe da, eine halbe Stunde später erschien ein senegalesischer Jungdichter im Peugeot und kutschierte mich zum Meridien. Während wir den zahlreichen zerbeulten Taxis und überfüllten Kleinbussen auswichen, sorgte ich mich etwas, daß uns einer der Busschaffner, die außen an den offen schwingenden Türen hingen, durch die Windschutzscheibe geschleudert werden könnte, oder daß sich aus den Myriaden Fußgänger jemand, geblendet von den Staubwolken der unbefestigten Gehwege, auf unsere Motorhaube verirrte. Der Jungdichter wies mich darauf hin, daß wir uns hier etwa fünfzehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem der besseren Vororte befanden. Schließlich bogen wir von der Airport Road mit ihren Geschäften, Gemüseständen und am Frühabend noch geschlossenen Nachtclubs ab. Hinter Hütten, Verschlägen und dahinrottenden Spekulationsruinen, aus denen rostige Betonstahlstäbe wie Stacheln in die Luft ragten, erhoben sich unvermittelt umwallte Prachtvillen, darunter auch architektonische Prunkstücke, die Beverly Hills Ehre gemacht hätten; dazwischen glitten schnittige Benzmobile durch elektronische Einfahrten. Bald bogen auch wir durch ein Sesam-öffne-dich-Tor und hielten vor dem bausubstanzlich weniger inspirierten Klotz des Meridien.
Im Chaos des Konferenzregistrationsraums hing mir eine der netten blaugewandeten jungen Helferinnen ein in Plastik versiegeltes Namensschild um, das mich zum Delegierten des irischen PEN-Zentrums ernannte; kurz erwog ich, diese Ehre widerspruchslos zu akzeptieren—war mir Joyce nicht schon immer literarisch näher als Grass? Aber dann rief ich mir Kurt Tucholsky ins Gedächtnis und Else Lasker-Schüler und Stefan Zweig und B. Traven und den Mann-Clan und plädierte für ein neues Schild um den Hals. Jetzt erst erkannte ich, daß das, was ich am Nachmittag im nervösen Gewusele vor dem Flughafen auf den blauen Kleidern der senegalesischen Grazien für bunte Schnörkeleien gehalten hatte, tatsächlich weiß und grün und orange gekringelte Giraffen waren; ihre Trägerin versprach mir für den nächsten Morgen eine Korrektur meiner Identität. Als ich der ob ihrer pseudolyrischen Lobhudeleien auf Arafat berüchtigten palästinensischen Agitpropfunktionärin Hanan Awwad ansichtig wurde, ritt mich kurz der Schalk, “Irish” mit ein wenig Filzstiftgeschick in “Israeli” zu falsifizieren—immerhin hatte uns der israelische PEN, von Armut am Kommen gehindert, sein Wahlrecht übertragen. Ich setzte an, aber es sah gleich so amateurhaft gefälscht aus, daß ich das “Irish” kurzerhand ganz schwärzte.
Nachdem mich der nette Jungdichter mit seinem Peugeot wieder zum Airport Hotel zurückgebracht hatte, war ich neugierig geworden und startete den Laptop, um mir die darauf gespeicherte letzte Stunde einer britischen Dokumentation über die letztjährige Dakar-Rallye anzusehen. Für mich, der normalerweise erst frühestens gen Morgengrauen ins Bett steigt, war der Abend noch recht jung, und zuhause, jenseits des Atlantik, war es gerade mal Nachmittag. Andererseits hatte ich im Transatlantikflieger eine Nacht versäumt. Aber was war das schon im Vergleich zu den Torturen, denen sich die masochistischen Teilnehmer der Dakar-Rallye—früher von Paris nach Dakar, in den letzten Jahren ging’s von Lissabon los—unterwerfen! Auf der letzten Etappe ging’s von Tambacounda, an der Grenze mit Gambia, zur senegalesischen Hauptstadt. Schließlich schälte sich aus den Sandwirbeln der Wüstenpiste ein Asphaltband, und kurz darauf erkannte ich die ersten Gebäude—war das nicht das Casino nebenan? Wir bogen scharfwinklig von der Airport Road ab in die Route de Almadies und stießen nach ein, zwei Kilometern auf den äußersten Westen des Kontinents mit seinen allerletzten Bebauungen, den Touristenburgen Club Mediterranee und Hotel Le Meridien President. Dakar wurde mir langsam vertraut.
Die offizielle Eröffnung des Kongresses, der wie üblich unter einem nichtssagend geschwätzigen Dreitaktmotto stand (“Die Welt, das Wort und menschliche Werte”), durch den Präsidenten des Landes, den kürzlich wiedergewählten Oktogenarier und Chef der liberalen PDS (Parti Démocratique Sénégalais) Abdoulaye Wade, war aus präsidialen Termingründen bereits von zehn Uhr morgens, der ursprünglich geplanten Zeit, auf drei Uhr nachmittags verschoben worden. Es lohnte nicht, zwischen Lunch und Veranstaltungsbeginn per Taxi zum Airport Hotel und zurück zu fahren, also unterwarf ich mich der tollpatschigen Sicherheitskontrolle am Eingang des Meridien-”Amphitheatre”. Da sich noch keine Schlange gebildet hatte, ging’s relativ flott voran; mit einigen Kollegen ergatterte ich einen hübschen Platz weit vorne, das Vorprogramm einer trommelnden, tanzenden und singenden Folkloretruppe direkt vor der Nase. Langsam füllte sich der Saal, da kam eine bleichgesichtige Dame von der Londoner Zentrale durch die Reihen angesprintet, um unsere Sitze zum Sperrgebiet zu erklären; sie seien für senegalesische Würdenträger reserviert.
Schlauerweise stellte ich mich dumm: “Ich sehe nirgendwo ein Reservierungsschild.”
“Sorry”, sagte die Dame nervös, “ leider hat man vergessen, es aufzuhängen. Tut mir leid, aber reserviert sind die Plätze nichtdestotrotz. Ich kann nichts dafür.” Sie wies in eine unbestimmte Richtung, als hätte sie von dort ihre Weisungen erhalten. Ich vermutete, sie sei von den senegalesischen Organisatoren aufgewiegelt und vorgeschickt worden, deren Pfründe gegen vorwitzige Fremdlinge zu verteidigen – was mir überhaupt nicht einleuchtete. War ich nicht als Delegierter sozusagen Abgeordneter der Club-Legislative und brauchte mir nichts von bürokratischen Handlangern befehlen zu lassen? Demonstrativ verschränkte ich die Arme, während sich meine europäischen Nachbarn bereits beflissen erhoben. “Ich lasse mich von Ihnen nicht herumkommandieren; hier sitze ich und hier bleibe ich!”
“Bitte…” Sie machte mir verzweifelte Rehaugen. “Bitte, aus Respekt vor unseren senegalesischen Gastgebern, setzen Sie sich doch bitte woanders hin!”
Angesichts der Lächerlichkeit dieser Argumentation blieb mir das Lachen im Halse stecken. “Aus Respekt vor den senegalesischen Gastgebern? Stellen Sie hier nicht was auf den Kopf? Und wo, bitteschön, bleibt deren Respekt für die Gäste?”
“Ich weiß...” Die Rehaugen verdrehten sich. “Ich verstehe Sie ja. Aber ich muß... Ich bin nur die Botin. Bitte! Bitte!”
Ich hatte halt noch nicht kapiert, daß unter den Großkopfeten dieser westafrikanischen Hauptstadt—allesamt Männer— mein Begriff von Gastfreundschaft vielleicht tatsächlich auf dem Kopf stand, daß der Gastgeber König und der Gast Untertan war, zumindest im aufgeblasenen Rollenspiel des senegalesischen PEN-Zentrums und einiger seiner regierungsamtlichen Spießgesellen.
Nun, um kurz nach drei, alles wartete auf den alten Herrn, der den Kongreß eröffnen sollte, saß ich schmollend weit hinten im Saal. Ich ärgerte mich über mich selbst, daß ich dem Drängen nachgegeben hatte—nicht dem Flehen der Rehaugen, sondern dem eifrigen Weichen der Kollegen—und nicht einfach an meinem Stuhl klebengeblieben war. Hätte man mich weggezerrt oder fortgeschleppt? Wohl kaum.
Im Lauf der Groteske, die sich über die nächsten drei Stunden abspulte, wurden diese Plätze übrigens nie von senegalesischen Würdenträgern okkupiert. Irgendwann saßen dort auf einmal diejenigen Delegierten, denen es als letzten gelungen war, den Sicherheitsstoffel am Eingang zu passieren. Die ersten werden die letzten und die letzten die ersten sein—ob der Koran das auch so von Jesus übernommen oder bei Matthäus plagiiert hat?
Die Stunden verronnen. Der PEN-Vorstand unter seinem Vorsitzenden Jiri Grusa erschien mehrmals auf der Bühne, nahm bedeutungsvoll Platz, schenkte sich Wasser ein, durchblätterte Akten—um nach zehn oder zwanzig Minuten zögernd wieder aufzustehen und hinter der Holztäfelung zu verschwinden. Einmal gerannen die lauten Gespräche im Amphitheater zum Geraune, als die Vertreterin der UNESCO mit einigen graubetuchten und blaubeschlipsten afrikanischen Herren Wangenküßchen wechselte – ging’s jetzt endlich los? Nein, plötzlich war die Bühne erneut wie leergefegt. Fast zwei Drittel der knapp 150 Mitgliedszentren hatten wenigstens einen, manche auch zwei Vertreter ins für die meisten ferne Dakar geschickt, denen angesichts dieser ungeheuerlichen Mißachtung und Zeitverschwendung die Gesprächsthemen zu versiegen drohten. Und wenn ich auch kein Wort der vor der Bühne unermüdlich ihre Stimmbänder strapazierenden und ihren elaboraten Kopfputz schüttelnden Sängerin verstand, klang, was noch vor zwei Stunden exotisch anmutete, inzwischen so monoton vertraut wie das Zirpen defekter Neonröhren in der Saaldecke.
Endlich, um viertel vor sechs, paradierten die Herrschaften herein, hohe Militärs und andere Staatsdiener im Schlepptau, als würde gleich eine Kriegserklärung verlesen. Man schwang ein paar nichtssagende Reden und tauschte Höflichkeitsfloskeln aus, wobei der Landesvater großartige kulturelle Versprechungen machte, die eher seine Wähler angingen als den PEN, und der Vorsitzende des senegalesischen PEN-Zentrums mir dadurch besonders unangenehm auffiel, daß er mit verbissener Miene unter Armestrecken und Fäusteschütteln demagogische Plattitüden in den Saal bellte. Nach einer halben Stunde war der Spuk vorbei. Zwar waren viele, wenn nicht alle Delegierten von dieser Farce verstimmt; aber ich hörte nur mich lauthals aussprechen, daß man uns soeben eine katastrophale Unverschämtheit zugemutet hatte.
“Da ist mal wieder klammheimlicher Rassismus am Werk in den kolonialen Gemütern”, kommentierte meine Frau, als ich ihr das alles mitten in der Nacht, nach einer unterhaltsamen Trommel- und Tanzschau im Nationaltheater, dank dem Mirakel von Skype ausführlich schilderte. “Da wird den armen Afrikanern großzügig nachgesehen, was bei uns einen Skandal heraufbeschwören würde: ‘Denn sie wissen nicht, was sie tun.’ Und diejenigen Afrikaner,die es besser wissen, halten den Mund, um nicht das Nest zu beschmutzen.” Als Afroamerikanerin kann sich meine Frau diese Meinung leisten.
Am nächsten Morgen ging es weiter mit den Arbeitssitzungen, die bereits am ersten Morgen begonnen hatten. Wir beteiligten uns an den Diskussionen des “Writers in Prison”-Komitees. Bei den massenweisen Horrorstories aus aller Welt verging sogar mir für ein paar Stunden jeder Spott und jede Ironie, und die Schilderung der Greueltaten, deren Opfer so viele mutige Kollegen geworden waren und immer wieder wurden, verdarb mir zeitweise meinen Zynismus. Hier, in diesem Komitee, 1973 in Berlin gegründet, erfüllte der PEN-Club auch im neunten Jahrzehnt seines Bestehens eine seiner wesentlichsten Aufgaben, verdiente er sich seine Existenzberechtigung.
Am Abend dieses dritten Tages durften wir eine weitere wunderliche Farce erleben. Nachdem Motorradpolizisten auf beiden Seiten der Straße jeglichen Verkehr gestoppt und unsere Busse in die Innenstadt geleitet hatten, hielten wir vor der rot-weißen neoklassizistischen Fassade des Außenministeriums und stiegen die Stufen zur Eingangshalle hoch; der Außenminister höchstpersönlich wollte uns, so stand es auf unseren hochglänzenden Einladungskarten, eine “reception dinatoire” bieten. Zunächst wurden zur Enttäuschung vieler bei solchen Anlässen an härtere Sachen gewöhnter PEN-Delegierten ausschließlich Softdrinks und Säfte verabreicht; naja, immerhin ist Senegal ein islamisches Land, auch wenn sich die wenigsten Frauen verhüllen; Teenager tragen ihre Bauchnäbel ebenso gern zur Schau wie ihre Geschlechtsgenossinnen in New York und Berlin, ältere weibliche Semester sind Pariser Chic nicht abhold, und ob mancher Decolletes würden nahöstliche Mullahs vor wollüstiger Wut einen Schreikrampf kriegen.
Viele PENner, vor allem die Damen, hatten sich in Schale geworfen. Ich trug meinen leichten Sommersakko trotz der schwülen Hitze hauptsächlich, so redete ich mir ein, weil er Taschen für meine Pocketkamera und ihre Batterien bot. Zu den Softdrinks wurden kleine Häppchen herumgereicht. Nach einer halben Stunde oder so bummerte jemand gegen ein drahtloses Mikrophon, und um die senegalesischen und PEN-Politiker formte sich ein Kreis. Der Außenminister unterhielt uns mit den üblichen Floskeln, der Vorsitzende des senegalesischen PEN bellte wieder los, und die internationalen Funktionäre bedankten sich artig für die senegalesische Gastfreundschaft. Während der offiziellen Reden verschwanden peu a peu sowohl die Häppchenplatten als auch die Softdrinks und Säfte. Zum Schluß starrte jedermann erwartungsvoll auf die Türen im Hintergrund der Eingangshalle, die nun wohl zum großen Festbankett aufschwingen würden. Aber nein! Nichts! Nada! Zilch! Alle, auch die Londoner Funktionäre, die’s doch eigentlich hätten wissen sollen, waren verdattert. Zurück zu den Bussen, sagten die hübschen Assistentinnen, auf deren zur Abwechslung purpurroten Kleidern die Figuren lendengeschürzter Schwarzafrikaner mich an den “kohlpechrabenschwarzen Mohr” aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter-“Geschichte von den schwarzen Buben” erinnerten. Wie, hieß es allenthalben, es gab nichts zu essen? Das war’s gewesen? Man schickte uns schlicht und einfach mit dem Magen in den Kniekehlen wieder weg? Ich hörte mir das weitgehend unterdrückte Gemecker an (mit dem herablassenden Unterton, naja, wir sind halt in Afrika), hatte aber selber keinen Hunger mehr. Insgeheim lobte ich mir meine Gier, mit der ich mich jeder der vorbeieilenden Häppchenplatten in den Weg gestellt und dann oft nicht nur ein-, sondern zweimal zugegriffen hatte.
Man konnte sich an die Tatü-tata-Sirenenbegleitung und das dadurch gewährleistete rasche Fortkommen gewöhnen. Als wir am Morgen der vierten Tages durch den im Straßenrandstaub wartenden dichten Verkehr preschten, manövrierte ein ungeduldiges, sich wohl besonders gerissen dünkendes europäisches Ehepaar seinen VW Touareg (!) vor unserem Bus in die Kavalkade und tat mit eingeschalteter Warnblinkanlage so, als gehörte man dazu. Der Busfahrer hupte ungehalten; schon kam auf seiner blitzweißen BMW ein Kradpolizist angebraust, fuhr mit erstaunlicher Präzision auf wenige Zentimeter an die Fahrertür des Touareg heran und drängte ihn wieder von der Straße ab.
Heute, Samstag, stand der einzige Sightseeing-Ausflug auf dem Programm: Wir stiegen am Fährhafen aus den Bussen und setzten per Ausflugsdampfer zur zwei Kilometer vom Festland entfernten früheren Sklavenumschlagsinsel Goree über. Obwohl Goree bei weitem nicht der größte Handelsplatz für Menschenfracht nach den Amerikas war, war es einer der bekanntesten und berüchtigsten geworden—einfach deshalb, weil die Senegalesen früher als die Behörden anderer westafrikanischer Staaten den touristisch-historischen Wert eines solchen Schandflecks erkannt hatten. So finden sich im verhältnismäßig unscheinbaren “Maison des Esclaves”, wo vor zweihundert Jahren mit Eisen an Händen und Füßen gefesselte Menschen hinter dicken Mauern eingepfercht und terrorisiert wurden, bis das nächste Sklavenschiff anlegte, Bilder von berühmten Besuchern wie Nelson Mandela (einst selbst lange auf einer Insel im Angesicht einer Großstadt gefangengehalten, auf Robben Island vor Kapstadt), von Bill und Hillary Clinton, von Danny Glover. Die Ausstellungsräume, vor allem der schäbige Gift Shop, in dem es kaum noch etwas zu kaufen gab, wirkten heruntergekommen; wohlhabende Afroamerikaner blieben aus, seit ihre Aufmerksamkeit auf die viel größeren Verliese der Sklavenforts in Gambia und Sierra Leone gelenkt wurde, in denen nicht nur Tausende, sondern Millionen ihrer Vorfahren auf brutalste Weise verschachert worden waren; zudem gibt es in Gambia und Sierra Leone mit ihrer englischen Kolonialsprache keine französische Sprachbarriere, und die politische Situation hat sich dort für touristische Zwecke genügend beruhigt.
Nach dem Besuch des Sklavenhauses erwanderte ich Goree auf eigene Faust. Zunächst erwehrte ich mich auf dem Kunstgewerbemarkt aufdringlicher Marktfrauen und fliegender Händler. “Look, look!” schrien sie mir ins Ohr, schlenkerten dicke Halsketten vor meinen Augen, winkten mit massengeschnitzten Masken, hieben auf Trommeln ein und versuchten mich auf Gedeih und Verderb an ihre Stände zu locken. Als ich mich zunächst auf keine Verhandlungen einließ, purzelten die Preise schnell so beträchtlich, daß ich dann doch ein paarmal in Versuchung geriet. Zunächst konterte ich frech mit unmöglich niedrigen Angeboten, denen jedesmal ein Aufheulen und Händeringen folgte. Ich kannte das Spiel aus dem Nahen und Fernen Osten, und so folgten langem Feilschen über ein bißchen Schmuck und Stoff gelegentlich Preiskompromisse, bei denen’s jeder zufrieden war.
Am Mittag war der von südeuropäisch anmutenden Häusern umringte saubere Sandstrand der Bucht neben der Anlegestelle der Fähre proppevoll und bis auf die dunklen Hautfarben und schlankeren Figuren der meisten Badenden kaum zu unterscheiden von westlichen Badestränden. Bei den Frauen, vor allem den jüngeren, überwogen knappe Bikinis; unwahrscheinlich, daß ihre Trägerinnen alle zu den kleinen christlichen und animistischen Minderheiten des Landes gehörten.
Gegen drei kehrten wir für ein spätes Lunch zum Meridien zurück, und die PEN-Meute versuchte, nach der Erfahrung im Außenministerium schlau geworden, jeweils für zwei reinzuhauen. Denn für den Abend hatte der Kulturminister zu einer “reception dinatoire” in Kombination mit einer Freilichtlesung afrikanischer Autoren im Garten der “Maison de la Culture” geladen, und da wollte keiner das Magenknurren bekommen.
Doch welch Überraschung: Die Kulturleute hatten ein zivilisierteres Verhältnis zur Bewirtung von Gästen als die Diplomaten. Schon bei der Ankunft begrüßten uns auf langen Tischen Whisky und Gin, bald flossen in Strömen Wein und Bier, und dazu gab es für jeden Geschmack viel Gutes zu futtern. Die Nachteile dieser unverhofften wundersamen Brotvermehrung: Mit sonnverbrannten Schädeln und gestopften Mägen nickte während der Lesung der Schriftsteller aus vier afrikanischen Ländern ein Teil des Publikums erschöpft ein, während andere vom Alkohol so vernebelt wurden, daß sie sich bald statt bei einer kulturellen Veranstaltung in einer Kneipe zu wähnen schienen; sie quasselten und lachten lautstark, während der Dichter aus Malawi seine Verse vortrug.
Nach diesem “freien Tag” konzentrierte sich der Kongreß in Plenarsitzungen und bei Rundtischen wieder auf seine eigentlichen Anliegen; Probleme wurden gelöst (oder auch nicht), Perspektiven erarbeitet, Zukunftspläne geschmiedet, es wurde um Delegiertenstimmen für kontroverse Anträge gerungen. Am Sonntagabend gab’s den nächsten Freilichtempfang, diesmal beim Bürgermeister; da erneut niemand vorhersagen konnte, ob und was es dort zu essen gab, steckte ich mir vorsichtshalber beim Lunch zwei trockene Brötchen in die Tasche.
Im Hof neben dem Rathaus, einem zweistöckigen Bau im französischen Kolonialstil, bogen sich jedoch die Tische, wenn auch ohne alkoholische Begleitung. Egal—ich hatte mich eh an das Nationalgetränk Bissap gewöhnt, den sehr leckeren roten Hibiskusblütensaft. Reden wurden geschwungen, der Smalltalk schleppte sich dahin… Und am nächsten Morgen hatten wir die Bescherung: Der halbe Kongreß litt an heftigem Darmkneifen und Durchfall; an mir ging der Kelch trotz ein bißchen Zwicken und Zwacken glücklicherweise vorüber. War es der Fischrogen gewesen? Das Hammelfleisch? Waren die Hühnerbeinchen schuld an den vielen verkniffenen Gesichtern und leeren Stühlen? Eigentlich hatte doch alles gut geschmeckt.
An Montagabend lud der Kulturminister nochmal ein, diesmal zu einer Massenlesung aller Delegierten, die sich dafür angemeldet hatten, und ließ sich auch heute nicht lumpen. Allerdings verspätete sich die Veranstaltung mal wieder um Stunden und wurde schließlich abgebrochen, als es schon auf Mitternacht zuging und erst wenige Gelegenheit zum Lesen gehabt hatten. Da hatte ich mich schon aus lauter Langeweile per Taxi aus dem Staub gemacht und lud am Pool des Airport Hotel leicht belämmert von mehreren Gin Tonic meine Fotos in den Laptop.
Am irrsten sollte es am Dienstag floppen; irgendwie hatte ich geahnt, daß da noch ein Höhepunkt auf uns wartete. Während sich am Vormittag die Versammlung mit Debatten dahinschleppte, hielt die Vorfreude auf den seit Monaten angekündigten Abendempfang—ein Bankett, nichtzuletzt!—beim Präsidenten Senegals die Laune aufrecht. Wir waren mehrmals am Präsidentenpalast vorbeigefahren worden und hatten seine äußere Pracht bewundert; innen konnte sowas ja auch nicht von schlechten Eltern sein. Selbst manche der sonst immer leger gekleideten westlichen „Poets, Essayists, Novelists“ (Acronym: PEN) hatten sich für diese einmalige Angelegenheit die Koffer mit Anzügen und Abendkleidern beschwert und diese im Hotel aufbügeln lassen.
Seit der ersten Plenarsitzung hockten auf dem Podium zwei senegalesische Herren, Anzüge und Krawatten immer “korrekt”. Da sie sich nie zu Wort meldeten, hielt ich sie für staatliche Staffage oder die Vizepräsidenten des senegalesischen PEN; es interessierte mich nicht genug, jemanden danach zu fragen. Doch an diesem Mittag, kurz vor eins, wurde der internationale PEN-Präsident Jiri Grusa bei seiner Ankündigung der Lunchpause von einem der Herren höflich unterbrochen; er habe eine wichtige Mitteilung zu machen. Der Saal staunte; auch der internationale Vorstand war offenbar nicht im Bilde.
Also, verkündete der Mann, und der englischsprachige Simultandolmetscher in meinem Kopfhörer hüstelte, bevor er weiter übersetzte: Leider habe der Herr Präsident, der ehrwürdige Abdoulaye Wade, Senegal am Morgen für ein wichtiges internationales Treffen verlassen müssen, und deshalb—er räusperte sich—müsse das Bankett im Präsidentenpalast leider ausfallen!
Im Saal entstand Unruhe. Der Hiobsbotschafter hob beruhigend die Arme. “Naja,” fuhr er fröhlich fort, “somit haben Sie den Abend zur freien Verfügung!” Erhob sich, packte seine Aktentasche unter den Arm, verabschiedete sich per Handschlag von den Maulaffen feilbietenden internationalen Vorstandsmitgliedern und flanierte gelassen vondannen.
Hans-Christian Oeser, unser österreichischer Kollege Helmuth Niederle und ich beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen. Nachdem wir wie üblich den Fahrpreis von der geforderten Summe auf die Hälfte heruntergehandelt hatten, ließen wir uns von einem der zahlreichen, überall auf Kunden lauernden Taxis zum Sandaga-Markt bringen, der sich auf Textilien spezialisiert und nicht auf kunstgewerblichen Firlefanz wie der Markt in Goree und der von Soumbedioune, wo wir am Sonntag um aus Coladosen und Konservenbüchsen geformte Buschtaximodelle schacherten und ich in ein Schlagloch voll Schlamm trat.
Am Markt angekommen, wollte uns der Fahrer unseres zerbeulten, wrackähnlichen Gefährts nicht gehen lassen—es wäre zu gefährlich allein, er fühlte sich verantwortlich und müßte uns begleiten. Wir drückten ihm seine 3000 CFA (senegalesische Franc, knapp fünf Euro) in die Hand und verschwanden im Gedränge des Marktes. Zwar wurden wir überall von Verkäufern belabert, geschah das doch immer sehr freundlich; nie kam es zu verbalen Feindseligkeiten. Beraubung von und Gewalttaten gegenüber Touristen sind in Dakar trotz weitverbreiteter Armut und Arbeitslosigkeit seltener als in europäischen und amerikanischen Großstädten, und auf Taschendiebe muß man an viel wohlhabenderen Orten wie Washington, Wien und Dublin mindestens ebenso scharf aufpassen.
Als es dunkel wurde und die Frauen ihre Marktstände mangels Straßenbeleuchtung dichtmachten, wanderten wir auf eine große Lichtquelle zu. In einer Art überdachtem, enggassigem Souk schnurrten unter Glühbirnen Hunderte von mechanischen Nähmaschinen, ausschließlich betrieben von männlichen Schneidern, die kaum von der emsigen Arbeit aufschauten, wenn wir stehenblieben und ihnen zuguckten. Ihre Finger flogen, die Füße traten in schnellem Rhythmus, der Blick hielt Nadel und Zwirn fest im Auge… Irgendwie wurde dieses Bild für mich der beeindruckendste Moment meines Dakar-Aufenthaltes; ich wurde davon so in den Bann gezogen, daß ich vergaß, oder vielleicht scheute ich mich, davon Fotos zu machen. (Und ich weigere mich, mir die Erinnerung daran mit Reflektionen und Interpretationen zu überlagern.)
Wir bummelten durch Straßen, in denen noch einige Läden offen waren. Als wir vor einem kleinen Schmuckgeschäft Mitbringsel für unsere Liebsten daheim erörterten, fragte der Besitzer durch die offene Tür in akzentfreiem Deutsch: “Guten Abend, meine Herren—wo kommen Sie her?” Es stellte sich heraus, daß er in Rostock Maschinenwesen studiert hatte; da mußten wir ihm doch wenigstens einen Ring oder Armreif abkaufen.
Als wir wieder auf die Straße traten und uns nach Transport zurück zum Hotel umsahen, tauchte wie aus dem Nichts das Wrack auf, aus dem wir vor über einer Stunde ein paar Straßenzüge entfernt, auf der anderen Seite vom Sandaga-Markt, ausgestiegen waren. Wie der Fahrer es geschafft hatte, uns wohl die ganze Zeit im Auge zu behalten, war uns ein Rätsel. “3000 Franc?” fragten wir. “Selbstverständlich,” erwiderte er. “Steigt ein!”
So bekamen wir statt des Präsidentenpalastes noch ein wenig vom “wirklichen Dakar” zu sehen. Auch nicht schlecht—obwohl ich eigentlich gespannt gewesen war, ob man uns beim Präsidenten Alkohol serviert hätte.
Am letzten Tag, bei der abschließenden PEN-Plenarversammlung, ging es noch einmal stürmisch zu, weil einige Delegierte eine Abstimmungsniederlage nicht ertragen konnten. Was wären Schriftsteller ohne ihre Eitelkeiten! Auf die Abschlußzeremonie mit dem Premierminister mußte ich wie viele meiner Kollegen verzichten, weil die Flüge nach Europa Dakar am Abend verließen. Aber das war die geringste der Planungspannen dieser Konferenz. Später hörte ich, daß der Premierminister zwar pünktlicher im Amphitheater des Meridien erschienen war als der Präsident bei der Eröffnung, aber nach ein paar Minuten der gewöhnlichen Klischees und ein wenig Folklore war die ganze Schau vorüber gewesen.
Als ich gegen zweiundzwanzig Uhr in den Airbus stieg, saß ein paar Reihen hinter mir ein alter Bekannter aus Washington, ein professioneller Entwicklungshelfer, den ich seit einem Jahrzehnt, seit seiner Scheidung von einer guten Freundin von uns, nicht mehr gesehen hatte. Er kam gerade aus Monrovia. Seine Tochter aus erster Ehe, sagte er, habe sich am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, verlobt. “Ich weiß”, erwiderte ich, und wir reminiszierten ein bißchen über die gemeinsamen Kindheitserlebnisse unserer gleichaltrigen Töchter.
“Obwohl ich dauernd in Afrika zu tun habe, war ich noch nie in Dakar,” sagte er, “nur zur Zwischenlandung hier auf dem Flughafen. Für den Senegal sind meine frankophonen Kollegen zuständig. Wie hat’s dir gefallen?”
“Man kann sich wohl dran gewöhnen”, erwiderte ich lasch und dachte mir: “Ich bin so klug als wie zuvor…”
“Ich fliege gern Brussels Airlines”, sagte er, “da wird man in Coach noch vernünftig verpflegt. Gute Weine. Morgen müssen wir leider wieder mit unsereiner Scheiß vorlieb nehmen. Fliegt du von Brüssel auch auf American Airlines zurück?”
Ich erzählte ihm, daß ich noch ein paar Wochen in Europa bleiben würde, um mich mit einer Motorradreise vom Altern abzulenken. ”Good for you”, sagte er. Die Stewardess schloß die Flugzeugtür. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, und wir rollten zur Startbahn.
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